Stand by me

oder

die Bande vom Gräfenberg

Stand by me, oh, stand by me 
Oh, stand, stand by me 
Stand by me Stand by me oh oh, oh …. 

Das Lied geht mir nicht aus dem Kopf, ein richtiger Ohrwurm. Ich bin mit der Radbande im Stromberg unterwegs, heute mal auf eine Plauderrunde oder auch Babbel Tour genannt. Immer hab’ ich wechselnde Buddys an meiner Seite. Es wird gefachsimpelt über neue technische Details an unseren Rennmaschinen. Ich nicke interessiert mit dem Kopf, bin aber raus, verstehe kein einziges Wort.  “ Basti, hab’ mir ein neues Rad bestellt aus dem Internet, nicht in meiner Wunschfarbe, aber dafür auf Lager”, ruft mir Marc von der Seite zu. “ Ok, ist jetzt das Fünfte in deiner Sammlung! Ja, brauch ich, du weißt, muss für jedes Terrain und Wetter gerüstet sein”, erklärt er mir salopp. Ich nicke und denke an mein erstes Rad: das hab’ ich aus dem Müll gezogen! 

Wir wohnten am Boppengraben, vor unserer Haustür: die Müllgrube aus dem Ort. Ich weiß nicht was alles dort entsorgt worden ist, aber Mülltrennung, Sondermüll und Sperrmüll gab es in unserem Wortschatz damals nicht. Ein spannender Abenteuerspielplatz für mich auf jeden Fall. So zog ich zwischen Reifenteile, Ölkanister, Sperrholz und Kleidungsreste ein kleines Fahrrad aus dem Dreck. Bestimmt musste mein Vater die Reifen flicken und die Kette ölen, aber aus meiner Erinnerung stand es, wie aus einem Katalog bestellt, fahrbereit vor mir. Ein Traum. 

In aller unserer Leben kommt die Zeit in der die Kindheit endet

Eine Zeit, in der nichts mehr ist wie zuvor.

Ich nehm‘ Euch mit, in mein Dorf, in meine Kindheit. Das nächste Haus war 300 Meter entfernt. Genannt, das „Weisse Haus“. Ein Arbeiter Haus für den nahegelegenen Steinbruch in dem einmal Kalk abgebaut wurde. Dort lebten 3 Familien: die Krebsen’s, die Boek’s und ein GI (US – amerikanischer Soldat) mit seiner Frau. Entweder die Kinder waren schon zu alt oder zu jung zum Spielen. In meinem Alter gab es die Patricia, sie war taff, aber halt doch ein Mädchen.

Das Dorf war ungefähr 2 km entfernt. Über einen kleinen Waldweg konnte man sich ein paar Meter sparen. Es ging entlang des Gräfenbergs auf dem im 12 Jahrhundert eine Burg thronte. Dort lebten einst die Griefenberger Grafen. In unserem Baumhaus tief im Wald erzählten wir uns Schauergeschichten und spielten die Sage aus dem Mittelalter der Spessarträuber mit einer selbstgebastelten Ritterrüstung gekonnt nach. Wir waren die Bande vom Gräfenberg. Und ich war natürlich Robin Hood, der Rächer der Enterbten. 

Zur gleichen Zeit wohnten – der Legende nach – auf dem gegenüberliegenden Klosterberg ehemalige Tempelritter, die aus Frankreich geflohen waren. Zwischen den Bewohnern der beiden Berge gab es ein Schutzbündnis. Sollte je den Griefenberger Grafen oder den Templern Gefahr drohen, so sollten sie eine Glocke läuten, um den jeweils anderen Bündnispartner zu Hilfe zu rufen. Eines Nachts wurden die Templer überfallen. Sie läuteten die Glocke, um die Griefenberger Grafen zu Hilfe zu rufen, doch vergeblich. Die Templer wurden besiegt und getötet. Der Grund jedoch, weshalb ihnen die Grafen vom Gräfenberg nicht zu Hilfe geeilt waren, war, dass sie selbst ihre Bündnispartner überfallen hatten. Als der Erzbischof von Mainz von dieser Tat erfuhr, ließ er die Burg der Griefenberger Grafen schleifen und die Grafen selbst hinrichten. Seitdem wandeln auf dem Gräfenberg „von Zeit zu Zeit drei finstere Gestalten, nicht in ritterlichem Schmucke, sondern vermummt wie Räuber, mit großen Schlapphüten“.

Mein täglicher Schulweg führte mich an Getränke Röpke vorbei. Im Untergeschoss des Einfamilienhauses lagerten die Getränkekisten. Der Sohn Heiko war ein Schulkamerad und die Spezi und Orangenlimonade mein Lieblingsgetränk. Wenn ich heute durch unsere großen Lagerhallen schlendere, nehme ich oft den gleichen Geruch von damals auf. Wenn mein Chef Gerhard Kiesel diese Zeilen liest, wird er mir bestimmt zustimmen. Er hat sein Getränke Unternehmen auch aus einer kleinen Garage heraus gegründet. 

Steil ging es in den Ort, auf der rechten Seite die einzige Tankstelle, wir passieren den alten Friedhof, nicht mehr weit auf der linken Seite, der Schuster Amrhein. Ein kleiner hagerer Mann mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Von seinem Fachwerkhaus blickte er aus seinem kleinen Fenster hinter Türmen von alten Schuhen, die er alle noch reparieren musste, auf die Straßenseite. Er hatte alles im Blick. Auf Termin hat er nicht gearbeitet. Aber meine Fußballschuhe hat er besonders schnell geflickt. Danke. 

Rechts die Feuerwehr, daneben die einzige Telefonzelle in Gelb, gegenüber das Grüne Tal mit Metzgerei, an der Seite der Schaukasten des Fußballvereins. In diesem bescheidenen Schaukasten spielte sich das Leben ab. Besser als jede Tageszeitung. Ah, ja, ich steh auf dem Spielberichtsbogen. Mit der Trikotnummer 5 für den Libero und die 10 hatte natürlich der Olli. In der Metzgerei gabs die besten Knackbeisser. Waren aber immer vergriffen oder noch zu frisch, mussten ein bisschen abgehangen sein. Olli hat mir einen Trick verraten: “Du musst die Würste ins Gefrierfach packen, dann schmecken sie am besten.” Mir läuft heute noch das Wasser im Munde zusammen. 

Man beachte den Schaukasten…

Nun haben wir den Stachus, die Ortsmitte erreicht. An der Ecke die Sparkasse und gegenüber der Bäcker Müller. Dort kaufte ich mir von meinem Taschengeld einen Mohrenkopf im Brötchen auf dem Weg zur Schule. Das geschmierte Leberwurstbrot meiner Mutter gab ich konspirativ Martin, meinem Freund und Sitznachbar. An der Seite wohnte der Fußballtrainer, sein Sohn Michael war mein Schulkamerad, so spielten wir oft im Innenhof Fußball. Er der Torwart, ich der Stürmer. Sein älterer Bruder Thomas (mit einer Behinderung zur Welt gekommen) auf dem Dreirad gab klare technische Tipps. Inklusion war damals schon gelebt. 

Was heute als unverpackt wieder richtig modern wird, war damals der Tante-Emma-Laden, die Vrone. Ich hab’ es geliebt dort meine Süßigkeiten aus den Holzschubladen zu bekommen. Ich kann mich noch an einen Satz meiner Mutter erinnern: die Vrone wird nicht immer mit den besten Waren vom Großhändler beliefert. Das fand ich ungerecht. So wurde das Geschäft weniger und der Laden geschlossen. Aber ich bin froh, Veronika Steigerwald kennengelernt zu haben. Wird die nächste Generation das später von einer Aldi oder Lidl Filiale auch mal sagen? 

Gegenüber schnell noch zur Maria in die Metzgerei Lisges auf ein Stück beste Fleischwurst. Lecker! Ihr gehörte auch der Gasthof „Zum Löwen“, der schöne Biergarten unter einer prachtvollen Linde und im Obergeschoss befand sich ein großer Tanzsaal. Man ging zur Maria. Herzlich, authentisch, bodenständig. Sie hatte das “Rollermischer Herz” am rechten Fleck. Ein, zweimal im Jahr kamen auch fahrende Marktbeschicker vorbei und verkauften ihre Schuhe und Textilien in dem Saal. Dort habe ich meine ersten Fußballschuhe her. Von adidas, die “Pierre Littbarski”, jetzt nur noch die gleichen Tricks und die gleichen Moves im Training. War ich stolz. 

Eine Institution war natürlich der Eyrich. Der Edeka im Dorf. Er hatte alles, oder konnte alles besorgen! Mit seinem Mercedes Benz fuhr er auch vollbepackt in die verwinkelten Dörfer des Spessarts um die Menschen mit dem nötigsten zu Versorgen. Ich glaube, Konrad Eyrich stand noch mit 90 hinter der Kasse. Es war seine Pflicht und Berufung zu gleich. Mein Bruder Max hatte die letzten 70er Jahre Hemden aus 100% Polyester abgestaubt. Kult. Ich hab’ ihn dafür gefeiert. 

Es ging in den Burgweg. Auf halber Höhe wohnte mein Klavierlehrer, Herr Thomas Lippert. Ja, ich hatte Klavierunterricht! Ich bin unmusikalisch. In der 3. Klasse im Fach Musik wurde ich aufgerufen, an die Tafel zitiert und sollte vorsingen. Ich glaube, Frau Hagitte, die Grundschullehrerin taten schon die Ohren weh, aber sie ließ nicht locker und mit einer: “6, Setzen!” strafte sie mich vor der ganzen Klasse ab. Das war der Ansporn mein musikalisches Talent doch noch zu fördern. Ein Klavier wurde besorgt. Jetzt war ich der Stolz der Oma. 2 Jahre hab’ ich eisern durchgehalten, aber bei „Figaros Hochzeit“ war Schluss. Herr Lippert war nicht der Meinung, dass ich talentlos sei, ein bisschen mehr Üben würde schon Erfolge bringen. “Warum kann ich locker zehnmal den Ball hochhalten, warum bin ich der letzte auf dem Feld beim Völkerball? Warum werde ich als erster ins Fußballteam gewählt? Weil ich Talent habe,” sagte ich ihm als 9-jähriger Steppke. “Und warum sind meine Hände zwischen den Weiß – Schwarzen Tasten nicht so flink?” Ja, insgeheim wusste er schon, das wird nichts mit mir, aber die 10 Mark pro Stunde waren ja auch bei einer Niete das gleiche Geld, dachte er insgeheim. 

So, nun noch den Buckel hoch, dann haben wir meine Grundschule erreicht. Frau Müller, Frau Hagitte und Herr Friedel, so hießen meine Lehrer. Der Ort meiner friedvollen Schulzeit, nur vor dem Hausmeister musste man sich in Acht nehmen! Der hat schon mal Schläge verteilt.  

‘I Never Had Any Friends Later On Like the Ones I Had When I Was Twelve.’ 

Ich erwache aus meinen Tagträumen, bin immer noch im Windschatten der Radbande. Genannt die Strombergbuben. “Hey Basti, du fährst heute so komisch auf deinem Rennrad, als wäre es dreimal zu klein,” rief Benni von der Seite. “Ach, wirklich” und schmunzelte innerlich. “Espresso Stopp im Kuchenglück” kündigte Präsident Charlie an. “Ja, ich nehm‘ ein Mohrenkopf im Brötchen von der Bäckerin Rosel,” verwunderte Blicke von allen Seiten! 

Es sind meine Rosen des Winters. Es sind meine Erinnerungen. Es ist mein Leben.  

Bleibt gesund, bleibt mir treu. Der Coach. (Euer Basti)

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  1. Martin Honecker

    Bin gestern mit dem Rennrad wieder durchgefahren aber wenn man das liest sieht man Rollermisch plötzlich mit ganz anderen Augen – alles hat seine eigene Geschichte – sehr schön geschrieben.

  2. Dari

    👍👍👍

  3. christa holler

    du hast mich sehr beruehrt, es sind ja auch meine erinnerungen, wenn ich den weg vom boppengraben zur ortsmitte in gedanken laufe, und was fallen mir da bei jedem haus fuer geschichten ein….25 jahre rottenberg, ein langes wichtiges stueck familien-und berufsleben mit allen hoehen und tiefen, was fuer aussergewoehnliche menschen durfte ich kennenlernen, ich habe geweint…. aber weinen befreit ja bekanntlich! merci sebastian! dir fliesst der text aus dem herzen, und das merkt man! mama

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